AUFRUF ZUR EINRICHTUNG EINES EUROPÄISCHEN ZIVILEN FRIEDENSKORPS
Ein Beitrag der europäischen Zivilgesellschaft zur Einrichtung eines europäischen zivilen Friedenskorps mit dem Ziel, den Krieg in der Ukraine zu beenden und zu verhindern, dass die Bedingungen fortbestehen, die ihn ausgelöst haben. Drei Vorschläge.
Angesichts des russischen Angriffskrieges haben sich die Mitglieder der Europäischen Bewegung für Gewaltfreie Aktion gemeinsam mit Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft und im Einklang mit den Stimmen der russischen Opposition gegen den Krieg eingehend mit zwei Fragen befasst: “Wie hätten wir ihn verhindern können?”, “Was können wir tun, um den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, ohne die ursächlichen Bedingungen fortzuschreiben, die ihn ermöglicht haben?”
Unsere Überlegungen richten sich darauf, die pazifistische Zivilgesellschaft aus der polarisierten Debatte über die Frage, ob Waffen geschickt werden sollen oder nicht, herauszuführen und ihr die Einheit in den Zielsetzungen und im Handeln zurückzugeben, die für den Weg zu einem gerechten Frieden unerlässlich ist.

Einige Eckpunkte zur Geschichte der Zivilen Friedenskorps
1994 brachte Alex Langer im Europäischen Parlament zum ersten Mal den Vorschlag ein, Zivile Friedenskorps einzurichten, die in Krisengebieten intervenieren sollten, um die Eskalation von Konflikten zu verhindern. Seitdem haben die europäische Regierung und das Parlament an dieser Idee weitergearbeitet und nach dem Vorbild des ECPC mehr als zwanzig zivile “Missionen” gefördert, von denen derzeit zwölf laufen (z.B. in Bosnien-Herzegowina im Jahr 2003, in Georgien im Jahr 2008 und zuletzt in Armenien im Februar 2023).
Das Vorgehen der OSZE in der Ukraine seit 2014 und das Scheitern der Special Monitoring Mission (SMM)
Im Jahr 2014 hat die OSZE im Rahmen der Minsker Vereinbarungen eine “Sonderbeobachtungsmission (SMM) to Ukraine” eingerichtet.
Das Mandat dieser von den 57 Mitgliedstaaten der OSZE gebilligten Mission war der Abbau von Spannungen und die Förderung von Stabilität und Sicherheit in der Ukraine, die Erleichterung des Dialogs zwischen allen Parteien und insbesondere die Gewährleistung der Minderheitenrechte im ganzen Land. Die Mission, die aus 700-1000 zivilen Mitarbeitern bestand, erstreckte sich über die gesamte Ukraine, konzentrierte sich aber insbesondere auf den Donbass. Sie endete am 31. März 2022 nach der Aggression Russlands, als ihr Mandat aufgrund des Vetos Moskaus nicht verlängert wurde.
Um die beiden obigen Fragen beantworten zu können, muss geklärt werden, was an den zivilen friedenserhaltenden Maßnahmen, wie sie bisher von den europäischen Institutionen konzipiert und durchgeführt wurden, nicht funktioniert hat und was geändert werden muss, um sie in ein kohärentes und dauerhaftes Projekt der zivilen Friedenskorps einzubinden, damit diese die ihnen wiederholt zugewiesene komplexe und heikle Aufgabe wirklich zu erfüllen vermögen, nämlich den Boden für Befriedungsabkommen zu bereiten und deren Umsetzung zu fördern.

Zwischen oberflächlichen Appellen und dem Scheitern früherer Abkommen
Als Vertreter einer europäischen Zivilgesellschaft, die fest an der Seite des ukrainischen Volkes steht, inmitten einer Aggression, die darauf abzielt, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und ein ganzes Volk dem Willen einer atomaren Supermacht zu unterwerfen, finden wir es unerträglich, dass immer wieder die Wiederaufnahme von Verhandlungen gefordert wird, die keine konkrete Umsetzung erwarten lassen.
Die Geschichte der ukrainischen Unabhängigkeit von 1991 bis heute ist voll von Abkommen und Vereinbarungen, die auf dem Papier geblieben sind. Angesichts der Tatsache, dass das Ergebnis
zerstörte Häuser und Leben sind, halten wir den reduktiven Diskurs, der in den Medien in die beruhigende Dichotomie von Frieden und Krieg einmündet, für sinnlos, so als ob sich der europäische Pazifismus in einen diabolischen Flügel, der für die Fortsetzung des Krieges ist, und einen tugendhaften Flügel teile, der sich gegen die Lieferung von Waffen ausspricht und automatisch für den Frieden steht. Wäre das Problem so einfach zu lösen, bräuchte es nicht des kritischen Denkens, das vom Pazifismus und von der Idee der Gewaltlosigkeit ausgeht.
Wir halten wir es für unabdingbar, dass die Friedensbewegung neben den Kämpfen und Kampagnen für die Abrüstung und die Nichtverbreitung von Atomwaffen heute geeint dafür eintritt, dass der Europäische Rat endlich die Einrichtung eines authentischen Europäischen Zivilen Friedenskorps beschließt, das mit allen Instrumenten und Mitteln ausgestattet ist, um die für die Erfüllung seines Auftrags erforderliche Autorität und Stärke zu gewährleisten. Dies setzt voraus, dass – auch im Hinblick auf eine Bestandsaufnahme der bisher von der EU durchgeführten zivilen Missionen – die Akteure zu Wort kommen, die in den letzten Jahrzehnten Erfahrungen mit dem Wiederaufbau in Kriegs- und Katastrophengebieten gemacht haben. Die täglich online veröffentlichten Berichte der SMM aus dem Donbass und das Spannungsverhältnis zwischen den darin enthaltenen Beobachtungen einerseits und den Reaktionen bzw. dem Ausbleiben von Reaktionen seitens der beteiligten institutionellen Stellen andererseits sind entscheidende Wissenselemente, die weit über das eitle und naive Spiel der Anschuldigungen, “wer zuerst angefangen hat”, hinausgehen.

Erster Vorschlag
Unser erster Vorschlag ist die möglichst baldige Einberufung einer “Europäischen Konferenz über Kriterien zur Einrichtung und zum Einsatz europäischer ziviler Friedenskorps”, an der sowohl institutionelle als auch nichtstaatliche (wie von Alex Langer beabsichtigt) Friedensstifter mit großer Erfahrung in diesem Bereich teilnehmen. Diese Konferenz soll in einer ukrainischen Stadt von einem Ausschuss, der sich aus Mitgliedern der europäischen Zivilgesellschaft unter dem Vorsitz von Vertretern der ukrainischen Zivilgesellschaft zusammensetzt, durchgeführt werden; an ihr sollen Vertreter politischer Institutionen auf verschiedenen Ebenen zunächst als Zuhörer und dann als Entscheidungsträger teilnehmen, d.h. als Gesprächspartner, die für präzise Antworten innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens verantwortlich sind.
Die Wahl einer ukrainischen Stadt als Veranstaltungsort sowie der ukrainische Vorsitz sind auch eine symbolische Anerkennung dafür, dass das Volk der Ukrainer durch seinen eigenen Kampf bei Gefährdung des eigenen Lebens die Position eines primus inter pares in der europäischen Familie verdient hat und dass niemand anderes als die Ukrainer eine Wende (oder, wenn man so will, eine Beschleunigung) beim Auf- und Ausbau einer europäischen Regierung einfordern kann. Eine solche Regierung muss zum ernsthaften Träger einer Vision und einer Strategie werden, die dem Kontinent die Rolle zuweisen, die ihm angesichts der schmerzhaften Lehren seiner Geschichte zukommt, nämlich die eines Garanten für die konstruktive Bewältigung von Konflikten im Innern und auf internationaler Ebene.
Es sei hinzugefügt, dass die Zweckmäßigkeit einer solchen Konferenz bereits aus zwei Durchführbarkeitsstudien über die Voraussetzungen für das ordnungsgemäße Funktionieren des EZPC hervorgeht, die von der Europäischen Kommission 2004 bzw. 2005 in Auftrag gegeben wurden. Beide betonen die zentrale Bedeutung von “nichtstaatlichen” Fachleuten, die auf der Grundlage eines Ad-hoc-Verfahrens von einer Leitungsgruppe rekrutiert werden; so ist es möglich, das jeweils besondere Profil für jede spezifische Krisensituation in ihrer Einzigartigkeit zu nutzen, also eher gegenseitiges Lernen in den je verschiedenen Kontexten zu fördern als die Umsetzung vordefinierter Pläne zu verfolgen. Dieses Thema ist auch in dem soeben vom Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments angenommenen Entwurf über die “Umsetzung der zivilen GSVP und anderer ziviler Unterstützungseinrichtungen der EU” enthalten, der für den Monat Mai auf der Tagesordnung der Plenartagung steht. Darin wird betont, dass das ECPC ein zusätzliches Instrument sein soll, das der EU für einen integrierten Ansatz zur zivilen Krisenbewältigung zur Verfügung steht . Wir fordern den Rat auf, das ECPC in das neue zivile GSVP-Projekt aufzunehmen, der im Mai vorgelegt werden soll, und fordern insbesondere die italienische Regierung auf, diesen Vorschlag zu unterstützen.
Es geht darum, auf europäischer Ebene über ein Gremium für konstruktive Konfliktbewältigung als notwendige und gleichwertige Ergänzung zu dem militärischen Korps nachzudenken, das im “Kompass” vorgesehen ist, der von den Verteidigungsministern der EU-Länder im März 2022 verabschiedet wurde und der bis 2025 eine Truppe von 5.000 Soldaten für schnelle Interventionen vorsieht. Es gilt den europäischen Institutionen klarzumachen, dass – wie alle systemischen Veränderungen – auch diese ihre Quelle und ihren Impuls in der Dynamik der Zivilgesellschaft und in neuen Formen des Dialogs zwischen Zivilgesellschaft und politischen Vertretern finden müssen.
Zweiter Vorschlag
Der zweite Vorschlag richtet sich an die italienische Regierung, um das Konzept des Zivilen Friedenskorps in unserem Land wiederzubeleben und neu zu definieren; es muss aus der endlosen Versuchsphase heraustreten, in dem es sich seit 2014 befindet. Von 2014 bis zum 31. Dezember 2022 hat Italien 190 Milliarden Euro für Militärausgaben bereitgestellt, aber vermochte nicht einmal 9 Millionen für die Erprobung des Zivilen Friedenskorps freizugeben.
Dritter Vorschlag
Vorschlag drei ist die Einberufung eines “Gewaltfreien Marsches für Brüderlichkeit und Frieden”, der möglicherweise im Sommer 2023 als gewaltfreie Abschlussveranstaltung der im ersten Vorschlag genannten Konferenz stattfinden soll.
Wir sind uns als europäische Pazifisten bewusst, dass unserem Profil und unserer säkularen Geschichte kein Weg zur Befreiung von Unterdrückung eingeschrieben ist, welcher der orientalischen ahimsa und satyagraha entspricht, wir vielmehr auf Waffen oder unsere Fähigkeit zur Solidarität vertrauen.
Von der Französischen Revolution bis zur Befreiung vom Nazifaschismus hat sich das zivilisierte Europa stets durch seine Fähigkeit ausgezeichnet, die Unterdrücker mit der Kraft der Enterbten und Unterdrückten zu stürzen, bis hin zur Etablierung einer zunehmend demokratischen, egalitären und liberalen Gesellschafts- und Institutionenordnung.
Wir sind uns auch bewusst, dass wir seit den Römischen Verträgen, mit denen die EGKS und die EWG gegründet wurden, zum ersten Mal unser “atomares Gewissen” einsetzen müssen, das Gewissen eines aktiven Pazifismus, der die Aufgabe hat, mit aller Kraft des Herzens und des Verstandes die Selbstzerstörung unseres Kontinents durch die Atommächte abzuwenden, die deutlich erkennbar in den aktuellen Ukraine-Konflikt eingreifen.
Der Marsch muss eine plastische Demonstration des atomaren Bewusstseins der Europäer sein, der darauf zielt, Tausende von Bürgern aus allen europäischen Ländern einzubeziehen. Er soll von der ukrainischen Zivilgesellschaft angeführt zu werden, die sich in diesem ersten Jahr des Krieges nicht nur durch den bewaffneten Widerstand, sondern auch und vor allem durch die vielen täglichen Formen des gewaltlosen Widerstands gegen die Invasion der Russischen Föderation ausgezeichnet hat.
Seine Grundlagen sind die Lehren Gandhis, des europäischen säkularen pazifistischen Denkens und der jüngsten Soziallehre der katholischen Kirche sowie die pazifistischen Horizonte aller Religionen unseres gemeinsamen Hauses.
Angesichts der atomaren Eskalation des Krieges im Herzen Europas und des Fehlens eines europäischen Heeres sowie eines bereits funktionierenden europäischen Zivilkorps rufen wir alle Friedensstifter auf, eine Menschenkette von Frauen und Männern zu bilden, die sich an den Händen halten und ihren Körper aufs Spiel setzen, um mit unserer Anwesenheit in der Nähe der ukrainischen Front die einfache, seit je gültige Botschaft zu verkünden, nämlich die Einheit des Menschheitsschicksals aller Völker und die Ausrufung eines Sieges, der auf einem neuen Pakt zwischen den Europäern beruht und für niemanden eine Demütigung darstellt.
Lassen Sie uns als Bewohner des Planeten die europäische und die Weltordnung im Lichte der bisher nicht eingelösten Garantien für Freiheit und Sicherheit neu überdenken, die für Ukrainer und Russen, für alle Völker und für jeden von uns gelten sollen.
Der europäische Marsch soll eine wahre Kette der Brüderlichkeit sein, der diejenigen in den Vordergrund stellt, die das Recht haben, sich angesichts der Aggression zu verteidigen, aber er hat nichts mit den “Herren des Krieges” gleich welcher Seite, sondern sehr viel mit den durch jeden Krieg verpassten Gelegenheiten für Liebe und Kreativität zu tun.
Er soll ein Massenereignis sein, das den Mächtigen vor Augen führt, dass die einfachen Menschen in Europa gegen Gewaltkonflikte sind, und den Regierungen mit Nachdruck sagt, dass es heute nicht möglich sein wird, einen Krieg zu beenden oder eine weniger ungleiche und solidarischere Welt aufzubauen, wenn die Zivilgesellschaft kein Gehör findet.
Wir werden uns an einem bestimmten Tag an der polnischen Grenze treffen und uns unter Führung der ukrainischen Zivilgesellschaft mit Sonderbussen und -zügen einer der Kriegsfronten nähern (z.B. in der Nähe von Kherson oder Backhmut), um unsere Ablehnung des Krieges durch unsere physische Anwesenheit zum Ausdruck zu bringen. Wir werden mindestens sieben Tage an dem angegebenen Ort unter Nutzung der dortigen Campingmöglichkeiten bleiben.
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